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Delphine de Vigan: Dankbarkeiten

Das schreibt der Verlag:
Michka, die stets ein unabhängiges Leben geführt hat, muss feststellen, dass sie nicht mehr allein leben kann. Geplagt von Albträumen glaubt sie ständig, wichtige Dinge zu verlieren. Tatsächlich verliert sie nach und nach Wörter, findet die richtigen nicht mehr und ersetzt sie durch ähnlich klingende. Die junge Marie, um die Michka sich oft gekümmert hat, bringt sie in einem Seniorenheim unter. Der alten Frau fällt es schwer, sich in der neuen Ordnung einzufinden. In hellen Momenten leidet sie unter dem Verlust ihrer Selbstständigkeit. Doch was Michka am meisten beschäftigt, ist die bisher vergebliche Suche nach einem Ehepaar, dem sie ihr Leben zu verdanken hat. Daher gibt Marie erneut eine Suchanzeige auf, und Michka hofft, ihre tiefe Dankbarkeit endlich übermitteln zu können.
Klarsichtig und scharfsinnig zeigt Delphine de Vigan, was uns am Ende bleibt: Zuneigung, Mitgefühl, Dankbarkeit. Und zugleich würdigt sie in ›Dankbarkeiten‹ all diejenigen, die uns zu den Menschen gemacht haben, die wir sind.

Das sagt Die gute Seite:
Der neue Titel von Delphine de Vigan ist ein traurig-seeliger Seufzer im Buchformat. Die 176 Seiten lesen sich wegen der großen Dialogdichte schnell und leicht dahin. Das Personaltableau ist mit den drei Hauptfiguren – die alte Dame Michka, ihre Ziehtochter Marie, der behandelnde Logopäde Jérôme – bereits abschließend umrissen. Über den Klappentext hinaus gibt es weder inhaltlich Überraschungen noch gewinnen die genannten Personen an großer Tiefe.

Und doch lohnt die Komplett-Lektüre, eben weil in diesem sehr übersichtlichen Setting auch nicht mehr Themen und Konflikte verhandelt werden, als bereits angerissen: Wem sind die drei Figuren wofür dankbar in ihrem Leben? Und wie können Sie das zum Ausdruck bringen? Müssen sie das überhaupt?

Sehr sachte geht es um Erinnern und Vergessen, um’s Verlieren. Um Familie, sozialen Halt, das Zuhause, das Leben. Aber vor allem immer wieder um Worte. Übersetzerin Doris Heinemann hat es wundervoll hinbekommen, dass die Äußerungen von Michka verständlich bleiben trotz ihrer Wortfindungsschwierigkeiten. Autorin de Vigan verschriftlicht das Ringen um die immer seltener fassbaren Worte. Im Zuge des Verlustes ihres Sprechvermögens ersetzt Michka Wörter. So wird aus “okay” konsequent “oje”; die Wörter werden lesbar weniger mit dem Fortschreiten der Aphasie.

Und auch Marie, die sich um Michkas Umzug ins Pflegeheim gekümmert hat, fühlt sich ohnmächtig gegenüber der Veränderung der alten Dame. Weil Michka schlecht hört und schnell den Faden verliert, ist auch das Telefonieren schwieriger geworden.  Darüber verzweifelt Marie, denn sie “weiß, was für eine Art Frau sie war, […] weiß, dass sie Doris Lessing, Sylvia Plath und Virginia Woolf gelesen hat, dass sie ihr Le-Monde-Abonnement behalten hat und weiterhin jeden Tag die ganze Zeitung durchsieht, auch wenn sie nur noch die Überschriften liest.” Am Ende, wenn sie auflegt, ist es ihre “eigene Hilflosigkeit, die [sie] überfällt und [ihr] die Sprache raubt.”

Dankbarkeit ist hier als heilende Flucht und emotionaler Balsam das einzig milde Mittel gegen Verzweiflung, Trauer und Ohnmacht. Dankbarkeit zu erfahren und zu geben erleichtert, ermöglicht, mildert, stärkt. Das haben alle drei Hauptfiguren gemein. Daher sind es im Plural titelgebende “Dankbarkeiten”. Hier geht’s zur Leseprobe.

Für Martina Läubli von der Neuen Zürcher Zeitung gehört Delphine de Vigan mit Annie Ernaux, Virginie Despentes, Leïla Slimani und Édouard Louis zur Liga französischer Literaten*, die das Erzählen mit einer schonungslosen Gesellschaftsanalyse verbinden.

Mit ihrem Titel No und ich kam der Durchbruch. Darin trifft die hochbegabte Einzelgänger Lou in Paris auf die auf der Straße lebende 18-jährige No – und will sie retten.

In Loyalitäten geht es um den 12-jährigen Théo, dessen Lehrerin Alarm schlägt. Das Scheidungskind lebt im Wochenwechselmodell und hat einen sehr gefährlichen Weg gefunden, mit der ungewollten Situation klarzukommen.

2017 erst erschien auf deutsch das Debüt von de Vigan, das mittlerweile (wie auch die weiteren genannten älteren Titel) im Taschenbuch vorliegt. In Tage ohne Hunger geht es um die 19-jährige Laure, ihre Einweisung in eine Klinik, ihre Kämpfe, die Gründe für die Krankheit, die Möglichkeit, ihre Lebensgeister wieder zu wecken.

Dem Vernehmen nach arbeitet die Autorin tagsüber in einem soziologischen Institut und schreibt nachts ihre Romane. Ich freue mich auf den nächsten.

Friederike Hartwig

Delphine de Vigan: Dankbarkeiten
Roman, 176 Seiten, erschien am 10.03.2020 bei Dumont,
aus dem Französischen von Doris Heinemann,
Originalverlag: JC Lattès, Paris 2019, Originaltitel: Les gratitudes.
Gebunden €20, epub €14,99 – zum Webshop