Das schreibt der Verlag:
Warschau 2014: Saturnin, ein alleinstehender Handelsvertreter und ehemaliger Leistungssportler, erhält eines Abends einen Anruf von seiner Mutter: Sein 96jähriger Großvater Tadeusz ist verschwunden. Entschlossen fährt er in sein Heimatdorf, um den Vermissten zu suchen.
Wie in einer Familienchronik entfaltet sich die Geschichte dreier Generationen. Sie ist stark von den Erlebnissen eines Mannes geprägt, der vor allem eines war: ein zärtlich liebender Musiker, der nie Soldat sein wollte und wider Willen zum rächenden Partisanen wurde. Später wird er sich in tiefes Schweigen vergraben.
Es ist der Enkel, der seinen Großvater zum Sprechen bringt und eine Geschichte erfährt, die seine eigene Jugend plötzlich in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt.
Jakub Małecki erzählt in den vielen Registern seiner äußerst lebendigen Sprache – anhand einfacher und selbstbewusster Landbewohner – die jüngere Geschichte Polens. Sein reifes, psychologisch fundiertes Verständnis des Menschen, sein humaner Blick und seine Vorstellungskraft machen seine Werke zu einer wichtigen, versöhnenden Stimme der europäischen Gegenwartsliteratur.
Das sagt Die gute Seite:
Der Verlag hatte unaufgefordert ein Leseexemplar geschickt (was in der Regel nicht so toll ist, da es zu vielen unnötig verschickten Paketen führt), aber seine Gestaltung fiel mir haptisch wie optisch auf. Zudem dachte ich, es handele sich um Meer auf dem Cover (und ich mag das Meer). Von diesem unabhängigen Verlag (erhielt Berliner Verlagspreis 2021) wollte ich sowieso mal wieder was lesen (nach 2016 Der Himmel von Lima) und da ich im Vorjahr mit einem Polnischkurs begonnen hatte, sprang mich die Übersetzung aus dem Polnischen an. So fand das Buch zu mir, ohne dass ich um seinen Inhalt oder gar sein Thema wusste, wofür ich sehr, sehr dankbar bin.
Die Spannung bei der Lektüre entstand für mich durch die verschiedenen Erzählpositionen im Buch: Während der titelgebende Saturnin durchgängig aus einer Ich-Perspektive erzählt, wechselt diese beim Großvater und schafft so gekonnt effektvolle Variation beim Lesen. Die Mutter kommt nur in einem der sieben Teile des Buches zu einer eigenen Form, die ihre Wirkung umso eindrücklicher entfaltet.
Der Roman spielt 2014 und beginnt in Teil 1 mit dem allein in Warschau lebenden Saturnin Markiewicz. Aus der Perspektive des 30-Jährigen erfahren wir vom plötzlichen Verschwinden des Großvaters Tadeusz aus dem Haus des Dorfes, in dem die Familie schon immer gelebt hatte. Mit seiner Mutter macht er sich auf die Suche nach dem Alten, nachdem sie einen Hinweis erhalten haben.
Teil 2 besteht aus Intimität schaffenden Briefen der damals jugendlichen Mutter an eine Freundin, aus denen wir von der Geburt des kleinen Saturnin erfahren, der von Allen Satek genannt wird. Im 3. Teil erinnert dieser sich episodenhaft an seine Jugend, in der er auf die kleine Hofgemeinschaft mit seiner alltagsbeschäftigen Mutter und dem fast stummen Großvater zurückgeworfen war, die aber mehr neben- als miteinander lebt. Hier sucht er im Ringen um Selbstwirksamkeit und Anerkennung seine Flucht im gefährlichen Leistungssport.
Endlich finden Mutter und Sohn den Großvater Tadeusz mitten in der ländlichen Einöde, von dem Satek im 4. Teil auf dem Rückweg im Auto nun zum ersten Mal endlich erzählt bekommt, wie er zum Krieg eingezogen wurde und dass er eine weitere Schwester hatte. Auch hier bleibt die Mutter außen vor, da sie das zweite Auto fährt. Erst wieder zu Hause muss der Sohn ihr die Worte des Vaters wiederholen. Die Leerstelle von Sateks eigenen Vaters kommt im 5. Teil zum Tragen, was wie eine Atempause wirkt, bevor die Erzählung über Tadeusz’ Zeit bis zum Kriegsende und zur Rückkehr seiner Familie bis zu der Zeit folgt, in der sein Enkelsohn geboren werden wird.
Im 7. und letzten Teil bricht Satek wieder auf “in seine Welt”, eine Warschauer Einzimmerwohnung, die nicht sehr verlockend daherkommt. Aber zuvor bricht sich etwas in ihm Bahn, er fordert Wissen und damit Hoheit über sein eigenes Leben ein, das er nun vielleicht überhaupt erst anders leben kann als zuvor, als so viel Ungesagtes die Familie beschwerte.
Das Buch endet mit einem Aufbruch des übergewichtigen Enkels und schafft zusammen mit dem Nachwort des Autors, der seine eigene Familiengeschichte zum Ausgangspunkt für den Roman nahm, kraftvolle Ermutigung, sich für Familiengeschichte zu interessieren.
Damit sensibilisert Małeckis Roman für transgenerationale Traumata. Vielleicht erinnert sich jemand aus der Kundschaft noch an unsere Lesung mit Matthias Lohre zum Erbe der Kriegsenkel? Hier sind sie wieder, die unsichtbaren Mechanismen von Angst, Schuld und Verdrängung, die unbewusst an die nächste(n) Generatione(n) weitergegeben werden. Stellen müssen sich ihnen dann die Nachgeborenen.
Im aktuellen Kontext des Einmarsches der russischen Armee in die Ukraine beschwört das Buch zudem die langwierigen Schrecknisse von Krieg, Vertreibung und der lang dauernden Bewältigung auch nach Ende eines hoffentlich schnell kommenden Friedens. Ein Krieg hinterlässt keine Held:innen.
Friederike Hartwig
Jakub Małecki : Saturnin
Erschien im Februar 2022 Secession Verlag Berlin.
Gebunden 268 Seiten, Originaltitel: Staurnin.
Aus dem Polnischen übersetzt von Renate Schmidgall,
In unserem Webshop: €25.
Ebenso bei secession erschienen: Jakub Małecki: Rost (2021, Roman)
>>Übrigens: Spannendes Editionsprojekt des Verlages: Die FONTE-Stiftung gibt im Secession-Verlag Berlin eine Buchreihe heraus über Autorinnen im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts: Femmes de Lettres.