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Juan Moreno: Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus

Das schreibt der Verlag:

Es war der größte Fälschungsskandal seit Jahrzehnten: Ein Reporter des “Spiegel” hatte Reportagen und Interviews aus dem In- und Ausland geliefert, bewegend und oftmals mit dem Anstrich des Besonderen. Sie alle wurden vom “Spiegel” und seiner legendären Dokumentation geprüft und abgenommen, sie wurden gedruckt, und der Autor Claas Relotius wurde mit Preisen geradezu überhäuft. Aber: Sie waren – ganz oder zum Teil – frei erfunden.
Juan Moreno hat, eher unfreiwillig und gegen heftigen Widerstand im “Spiegel“, die Fälschungen aufgedeckt. Hier erzählt er die ganze Geschichte vom Aufstieg und Fall des jungen Starjournalisten, dessen Reportagen so perfekt waren, so stimmig, so schön. Claas Relotius schrieb immer genau das, was seine Redaktionen haben wollten. Aber dennoch ist zu fragen, wieso diese Fälschungen jahrelang unentdeckt bleiben konnten. Juan Moreno schreibt mehr als die unglaubliche Geschichte einer beispiellosen Täuschung, er fragt, was diese über den Journalismus aussagt.

Das sagt Helene Paulig, Stammkundin der Guten Seite:

Die Geschichte über die Aufdeckung der Lügen des Claas Relotius (Jahrgang 1985) liest sich wie ein Krimi; in diesem Falle ohne Tote, aber mit vielen Morden an der Wahrheit. Wahrheit? Was ist das, wer kennt sie, wer glaubt sie?

Gestiegene Erwartungen im Wahrheitsbusiness

In sehr vielen Berufen geht es um Vertrauen, da macht der Journalismus keine Ausnahme. Journalisten*innen sind für Leser*innen im In- und Ausland unterwegs, um Ereignisse, Handlungen und Situationen authentisch zu beschreiben. Sie erhalten die Chance von Redaktionen, an Orten zu sein, die den meisten Mitmenschen verschlossen sind oder die sie nicht erreichen können. Sie können über Personen schreiben, die viele auch gerne mal getroffen hätten. Sie sind privilegiert. Mit ihren Augen, Ohren und Gehirnen suchen sie nach Wahrheiten und Erkenntnissen, die sie den Lesern*innen, Hörern*innen und Zuschauern*innen vermitteln.
Die neuen Kommunikationswege der sogenannten sozialen Medien, fake news und von Algorithmen gesteuerte Informationen lassen die Erwartungen an seriöse, also verantwortungsbewusste Journalisten*innen nur noch wachsen. Die Geschichte des Claas Relotius zeigt jedoch, dass auch die Verantwortlichen in Redaktionen Pflichten wahrzunehmen haben.

Freier Mitarbeiter vs angestellter Star-Journalist

Juan Moreno hätte die Geschichte über eine illegale Bürgerwehr an der US-amerikanischen Grenze zu Mexiko gerne selbst geschrieben. Nachvollziehbar ärgert er sich, dass nicht er den Auftrag erhält, über das Treiben von selbsternannten Vaterlandsschützern zu recherchieren, zumal er sich gerade in Mexiko aufhält, sondern der mehrfach preisgekrönte Spiegel-Kollege Claas Relotius. Moreno darf zuarbeiten. Es gibt sie eben, die Unterschiede im Status und in der Behandlung von Mitarbeitern durch die Leiter des exklusiven Gesellschaftsressorts: Es gibt festangestellte Mitarbeiter und freie. Zu letzteren gehört Moreno. In seinem Buch beschreibt er sachlich und nachvollziehbar, wie solche Beschäftigungsverhältnisse wirken: nach innen, wenn er von seinen Befürchtungen berichtet, als Familienvater zukünftig keine Aufträge mehr zu erhalten, wenn er nicht spurt; von außen, wenn Leiter deutlich machen, dass sie Macht besitzen, die sie gegen ihn anwenden können.

Die Leitenden glauben Relotius. Er ist im Umgang ein angenehmer Mensch, schreibt mit Gefühl und exklusive Geschichten, er erhält sehr viele Preise. Das hebt das Ressort der Reporter innerhalb der „Spiegel“-Redaktion heraus. Von den Preisen fallen auch viele Strahlen auf die leitenden Redakteure*innen, die übrigens selbst kaum noch schreiben.

Majestätsbeleidigung oder Königsweg

Moreno beschreibt akribisch und gut mit Quellen belegt, wie er Verdacht schöpft, dass sein Kollege Relotius gar nicht vor Ort war bei der Bürgerwehr, dass er seine ganze Reportage erfunden hat. Moreno lässt die Leser*innen an seinen Zweifeln, Gefühlen, Verletzungen und an seinen Auseinandersetzungen mit seinem journalistischen Ethos teilhaben. Er erlebt Anfeindungen, unterschwellige und offene Vorwürfe, denn die Vermutungen und schließlich Fakten, die er gegen Relotius vorbringt, werden als Majestätsbeleidigungen aufgefasst, von Relotius selbst und von der Redaktionsleitung. Es kann nicht sein, dass sie versagt haben. Moreno muss in Abgründe schauen, es besteht die ernst zu nehmende Gefahr, dass er nie mehr als Journalist arbeiten kann.

Im Dezember 2018, kurz nachdem Relotius zum vierten Mal den wichtigsten deutschen Reporterpreis erhalten hatte, fällt das Lügengebäude von Claas Relotius zusammen. Eine verantwortliche Leiterin glaubt Moreno – endlich. Sie schaut selbst genauer hin und entdeckt, dass Relotius E-Mai-Adressen erfindet und Fotos fälscht.

Reaktionen und Konsequenzen

„Der Journalismus ist ein anderer geworden nach Relotius.“, schreibt Moreno in seinem Buch. Zu seinem Erstaunen richtete sich auch Wut von Lesern*innen gegen ihn. Viele Redaktionen haben Beiträge von Relotius gedruckt. Sie alle wurden erschüttert von der Erkenntnis, dass er ein Hochstapler ist. Der „Spiegel“ setzte eine Kommission zur Aufarbeitung des Systems Relotius ein. Der Abschlussbericht mit vielen heftigen Schlussfolgerungen ist auf den Internetseiten des „Spiegel“ nachlesbar. Viele haben versagt, auch die Dokumentationsabteilung des Magazins. 80 Mitarbeiter*innen hat sie, das leistet sich der „Spiegel“. Doch auch sie kamen den Lügen von Claas Relotius nicht auf die Schliche.

Seit diesem Jahr hat der „Spiegel“ eine Ombudsstelle, wo Kollegen*innen, aber auch Leser*innen Zweifel, Auffälligkeiten und Fehler äußern können und sollen. Der Regisseur Michael Herbig wird die Geschichte auf der Basis des Buches von Juan Moreno verfilmen. Es gibt stets viele Sichten auf eine Geschichte und mehrere Wahrheiten, aber es existiert auch ein journalistisches Ethos. Juan Moreno hat viel dazu getan, dass seriöser Journalismus noch eine Chance hat.

Helene Paulig, 01.02.2020

Anmerkung der Redaktion: Claas Relotius geht seit Oktober 2019 juristisch gegen das Buch Juan Morenos vor. Zu den Vorwürfen sowie zum Aufklärungsbericht der SPIEGEL-internen Untersuchung bitte hier entlang.

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Zum Weiterstöbern: Die letzte Buchempfehlung von Helene Paulig: Juli Zeh: Unterleuten. Mit dem thematischen Blick auf Energiewende, Politik, Stadt & Land.