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Juli Zeh: Unterleuten

Das schreibt der Verlag:

Manchmal kann die Idylle auch die Hölle sein. Wie das Dorf „Unterleuten“ irgendwo in Brandenburg. Wer nur einen flüchtigen Blick auf das Dorf wirft, ist bezaubert von den altertümlichen Namen der Nachbargemeinden von den schrulligen Originalen, die den Ort nach der Wende prägen, von der unberührten Natur mit den seltenen Vogelarten, von den kleinen Häusern, die sich Stadtflüchtlinge aus Berlin gerne kaufen, um sich den Traum von einem unschuldigen und unverdorbenen Leben außerhalb der Hauptstadthektik zu erfüllen. Doch als eine Investmentfirma einen Windpark in unmittelbarer Nähe der Ortschaft errichten will, brechen Streitigkeiten wieder auf, die lange Zeit unterdrückt wurden. Denn da ist nicht nur der Gegensatz zwischen den neu zugezogenen Berliner Aussteigern, die mit großstädtischer Selbstgerechtigkeit und Arroganz und wenig Sensibilität in sämtliche Fettnäpfchen der Provinz treten. Da ist auch der nach wie vor untergründig schwelende Konflikt zwischen Wendegewinnern und Wendeverlierern. Kein Wunder, dass im Dorf schon bald die Hölle los ist.

Das sagt die Gute Seite – heute in Person unserer Stammkundin der ersten Stunde Helene Paulig:

Es sind so viele Rezensionen zu diesem aufwühlenden Roman erschienen. Die Autorin war in unzähligen Talkshows. Die Aufmerksamkeit hat dieses zeitgeschichtliche Werk verdient. Mein Zugang ist direkt: Ich arbeite in Brandenburg. Ich bin jedoch sicher, dass die beschriebenen Konflikte überall in Deutschland stattfinden. Denn der Roman nimmt in anschaulicher und klarer Sprache grundsätzliche gesellschaftliche Auseinandersetzungen auf. Die Geschichte um die Aufstellung von Windrädern könnte auch durch den Bau von Straßen, den Lärmschutz an Bahnlinien oder durch den Umgang mit Bibern und anderen Wildtieren ersetzt werden. Die literarische Verdichtung so vieler alltäglicher Vorgänge mit den großen Fragen unserer Zeit ist stellenweise atemberaubend. Ich legte dann das Buch ab und zu zur Seite, weil es so viel nachzudenken und dem Gelesenen nach zu spüren gab.

Energiewende

Gerhard Fließ (Professor und Vogelschützer) und seine Frau Jule „redeten, wie sie schon lange nicht mehr miteinander geredet hatten. Über den tollwütigen Fortschrittsdrang der kapitalistischen Gesellschaft. Über die Idiotie der Politik. Über die Egozentrik und Aggressivität der modernen Welt… Selbstverständlich war Gerhard als Umweltschützer der ersten Stunde ein leidenschaftlicher Befürworter der Energiewende. Auch Jule vertrat die Auffassung, dass die Zukunft der Menschheit von der Umstellung auf erneuerbare Energien abhing. Aber alles mit Augenmaß“.

Die geplante Aufstellung von Windrädern in der Nähe des Dorfes entwickelt ausschließlich Fliehkräfte: Die Besitzer*innen des Landes pokern heimlich mit- und gegeneinander. Neid, Missgunst und in der Wendezeit geschlagene Wunden um das Eigentum der alten LPG plagen viele Dorfbewohner*innen. Die Autorin beschreibt die Emotionen und Gründe für das Handeln ihrer Protagonisten*innen packend nachvollziehbar. In fast alle menschlich einfühlsam und genau gezeichneten Personen kann man sich hinein versetzen. Den Menschen in diesem Roman steht jedoch kein Mittel und offenbar auch kein Raum zur Verfügung, ihre Verletzungen, Konflikte, Gefühle und Überlegungen friedlich miteinander auszutragen.

Wer in die Versammlungen mit Bürgerinitiativen, die sich in vielen Brandenburger Städten und Gemeinden gegen den weiteren Ausbau der Windenergie zusammen geschlossen haben, geht, spürt diese Stimmungen, erfährt die Aggressivität und zum Teil Ratlosigkeit. Energiewende? Nicht bei uns! Energiewende? Ja. Aber wie? Greift die Autorin diese Ratlosigkeit auf, wenn sie ihre Leser*innen dabei zuschauen lässt, wie Konflikte gewalttätig aufgelöst werden?

Bürger*innen und Politik

Das Wesentliche wird nicht in Unterleuten entschieden. Nicht einmal in Plausitz. Sondern in Neuruppin.

Der Saal schwieg. Die Menschen waren daran gewöhnt zu hören, dass sie nichts zu entscheiden hatten. Seltsamerweise löste diese Ansage keine Wut , sondern schlechtes Gewissen aus. Arne (Bürgermeister von Unterleuten, H.P.) kannte das Phänomen und hatte darüber nachgedacht. Vielleicht fanden sie es peinlich, dass sie überhaupt für eine Sekunde auf die Idee verfallen sind, eine Stimme zu besitzen. Oder sie schämten sich, weil sie nichts gegen die Entmachtung unternahmen. Am wahrscheinlichsten aber war, dass sich das schlechte Gewissen auf ihre heimliche Erleichterung bezog. In Wahrheit war jeder froh, wenn er nichts entscheiden und folglich auch nichts verstehen musste.“

Ich habe mir alle Stellen notiert, in denen es in diesem Roman um Aussagen zur Politik geht. Alle, ausschließlich alle, sind negativ. Dabei mischen sich Juli Zehs Figuren mit Macht in die Entscheidung ein, ob die Windräder aufgestellt werden sollen. Die oft hilflosen Aktionen finden kein adäquates Pendant bei örtlichen Verantwortlichen, in der Kreis- oder Landesebene. Für alle, die politisch Verantwortung tragen, scheint mir der Roman eine Pflichtlektüre. Aber auch für all jene, die sich gegen politische Entscheidungen wehren. Gegenseitige Sprachlosigkeit und der Verlust von Räumen, in denen Kompromisse gefunden und gemeinsame Wege gesucht und gefunden werden, führen in Verdrossenheit und Lethargie oder Hass und Gewalt. Oder positiv gewendet: Unsere Gesellschaft braucht neue wertschätzende und demokratische Formen und Formate der Auseinandersetzung; und das ist Aufgabe von Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Zivilgesellschaft.

Stadt und Land

Das Dorf war ein Lebensraum, den sie (Jule Fließ-Weiland) überblickte und verstand. Die Unterleutner lasen keine Zeitungen, sahen wenig fern, nutzten das Internet nicht. Dass sie alle vier Jahre ihren Arne zum Bürgermeister wählten, war Ehrensache; den Namen des Bundespräsidenten kannten sie vermutlich nicht. Die Politik interessierte sich nicht die Bohne für Unterleuten – warum sollte sich Unterleuten für Politik interessieren? Im Dorf gab es keine Geschäfte, keinen Arzt, keinen Pfarrer, keine Post, keine Apotheke, keine Schule, keinen Bahnhof – es gab nicht einmal Kanalisation… Einige Kilometer außerhalb des Dorfs befand sich ein Horizontalfilterbrunnen, auf den der Bürgermeister unendlich stolz war, weil er die Gemeinde von der Trinkwasserversorgung des Zweckverbandes unabhängig machte. Ein weiterer Schritt, der Unterleuten von aller Staatlichkeit entfernte.“

Es mag manchmal wie Klischee klingen, wie Juli Zeh die Situationen beschreibt, aber was wäre Literatur ohne künstlerische Zuspitzung. Das Verhältnis zwischen Land- und Stadtbewohnern, die mangelnde Kenntnis von der gegenseitigen Abhängigkeit, die tief sitzenden Vorurteile zwischen Metropole und Provinz kommen oft genug im Alltag wie billige Klischees daher. Sie können gar nicht erfunden werden, so real sind sie. Dabei stellen sich so viele Fragen: Wie wollen wir uns in Stadt und Land zukünftig ernähren, wie wollen wir wohnen? Wie sollen und wollen Menschen in der Uckermark, in der Prignitz oder anderswo leben? Was brauchen sie für eine Infrastruktur? Wie viele Krankenhäuser leisten sich Flächenländer in ländlichen Räumen?

Ich habe hier nur drei Themen heraus genommen für die Rezension. Der Roman von Juli Zeh bietet so viel weiteren Stoff, ich denke nur an das Thema „Menschen und Naturschutz“. Der Roman lässt fühlen, denken, streiten, widersprechen. Ist es wirklich so, wie Silke, die Wirtin im Märkischen Landmann sagt? „Von der Theke her” sagt Silke, dass es komisch sei, wie  sich immer alles ändere und irgendwie trotzdem genau wie früher bleibe.“