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Luo Lingyuan: Das fragile Glück der Harmonie

Das schreibt der Verlag:
1987 bewegen Deng Xiaopings Reformen ganz China. Wie Millionen andere, will auch die junge Informatikerin Lu Tanya, Kind einer armen Familie aus der Provinz, dazu beitragen, eine neue, florierende Zukunft aufzubauen. Ihre schon früh erblühte Liebe zur Literatur und zu Konfuzius Lehren von der Harmonie aber lassen Sie heimlich davon träumen, eines Tages selbst literarische Werke zu schreiben. Tatsächlich gelingt es ihr, an der renommierten Fudan-Universität in Shanghai als hochbegabte Stipendiatin Journalistik zu studieren und damit ihrem Leben einen anderen Verlauf zu ermöglichen.

In der Universitätsbibliothek begegnet ihr der junge deutsche Sinologe Norman Berger. Zwischen beiden entspinnt sich eine Liebesbeziehung, die, kaum geboren, ins Fahrwasser gesellschaftlicher Zwänge gerät. Das von der Partei erteilte Verbot wilder Ehen mit »kapitalistischen« Ausländern, plötzlich aufkommende Forderungen der Studenten nach mehr Demokratie und deren staatliche Unterdrückung, die Gefahr von Denunziation und Statusverlust werden zu den Gegenspielern einer jungen Frau, die ihre erste große Liebe zu retten versucht.

Luo Lingyuan zeichnet in ihrem Roman das Porträt einer politisch aufgeheizten Zeit und erzählt behutsam zart eine Liebesgeschichte, deren Heldin in Berlin ihrem Leben noch einmal eine ganz andere Wendung geben wird.

Das sagt Die gute Seite:
Ein zartes Fundstück, das sich wunderbar verschenken lässt! Die Ich-Erzählerin Lu Tanya ist ein “Landei und [sieht] auch so aus: Ich trage zwei lange Zöpfe, habe eine dunklere und straffere Haut als die Städter und bin seh bescheiden gekleidet, denn für modische Kleidung der Töchter haben die Eltern kein Geld. Ihnen ist wichtig, dass all ihre Kinder die höhere Schule besuchen und glücklich werden. Mit mir sind sie, glaube ich, bislang zufrieden.”

Und so ist Tanya wie ein zartes Pflänzchen, das sich zwar Stück für Stück gen Himmel reckt, aber immer vorsichtig, umgeben von bereits ausgewachsen Pflanzen und der vagen Möglichkeit, dass auch Alles jederzeit zu Ende sein kann. Das erzeugt eine dauerhafte Lesespannung, die bis zum Ende des Romans reicht und nicht nur am Plot hängt, sondern eher an den geschilderten Beziehungen. Die sind gekennzeichnet durch scheinbar emotionale Distanz. Denn warum glaubt Tanya nur, dass ihre Eltern mit ihr glücklich sind?

Durch die Ich-Erzählperspektive wird deutlich, dass hier eher Sprachfähigkeit das Thema ist – es hapert an den richtigen Worten zur richtigen Zeit, weil es die Geschlechter-Konventionen nicht erlauben, Sex beispielsweise nur unausgesprochen an der Universität verboten ist, aber hart bestraft wird. Oder wenn Tanya sich mit dem Ausländer Norman einlässt, der als Student pro Monat mehr Geld zur Verfügung hat als Tanya und ihre Eltern in einem Jahr, so dass er sie auf eine Reise einlädt, die sie sich nie leisten könnte, die ökonomische Ungleichheit und deren Auswirkungen auf die Beziehung jedoch sprachlich keinen Raum findet.

So ist Tanya als Arme-Leute-Kind nicht nur auf der Reise immer am Staunen, was Norman kann und weiß, was in ihrem Land alles möglich ist. Das liegt auch an Normans Status, den er aber nur teilweise reflektiert und Tanya damit in die Bredouille bringt, weil sie sich nicht traut, Bedürfnisse und existenzielle Notwendigkeiten zu versprachlichen bis hin zur Option einer Heirat, um sie vor einer drohenden Exmatrikulation zu bewahren. Man möchte die Figuren förmlich schütteln, um sie zum Miteinandersprechen zu bringen.

Das gilt insbesondere bei feministischer Lesart. Die Versprachlichung von Begehren, von allem Körperlichem – schnöden Beschreibungen wie Grenzen – ist von Tanya schlicht nicht erlernt, da gesellschaftlich offenbar nicht erwünscht und wird von Normans Seite nicht abgefragt. Das ist umso dramatischer, als dass sie Journalismus studiert, Literatur liebt und Sprache gleichzeitig ihre Flucht und und ihr Wohlfühlgebiet ist. Tanya als junge Frau ohne Geld vom Land fern der Familie als Leistungsstudentin, liiert mit einem Ausländer, verhilft diesem mit ihrem Können sogar zu einer literarischen Übersetzung eines deutschen Klassikers, die verlegt wird, ihm zu Ansehen verhilft und damit seine Karriere befördert.

Der gesellschaftliche Druck ist enorm. Die Partei bestimmt nicht nur den beruflichen Werdegang und damit auch den geografischen Aufenthalts- und Lebensort, sondern auch die Unterbringung und damit die sozialen Beziehungen, die nie innig und damit vertrauensvoll sind. Immer gibt es eine Hürde, eine Eventualität, eine Bedrohung, die das titelgebende Fragile Glück der Harmonie jederzeit zerstören kann.

Der Ausweg aus all dem ist BERLIN, wo vor allem Tanya wieder hart arbeiten und von vorn beginnen muss. Schließlich wird spätestens hier auch eine autobiografische Verbindungslinie zur Autorin sichtbar, wenn Tanya ihre erste Erzählung Du fliegst jetzt für meinen Sohn aus dem fünften Stock! schreibt, was der Titel für einen Erzählband von Luo Lingyuan ist, die seit 1990 in Berlin lebt.

Beeindruckend klare Erzählsprache ohne Schachtelsätze, wenig Adjektiven, viel Dialog und schönem zeitlichen Bogen von zwei Mal drei Jahren in China und Berlin. Zart, stark, klar – eine dankbare Entdeckung einer Berlin Autorin.

Friederike Hartwig

Luo Lingyuan: Das fragile Glück der Harmonie
Erschien im Februar 2023 im Secession Verlag
Gebunden, 293 Seiten.
In unserem Webshop: €22.
>>Zuletzt von der Guten Seite besprochen aus dem gleichen Verlag: Jakub Małecki: Saturnin.