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Szczepan Twardoch: Kälte

Das schreibt der Verlag:
Der Kampf eines Mannes, der nichts zu verlieren hat. Gegen die Kälte und gegen sich selbst. Einst war Konrad Widuch begeisterter russischer Revolutionär, kämpfte in der Reiterarmee. Unter Stalins Herrschaft verliert er alles, den Glauben an die Sowjetunion, seine junge Familie, die Zukunft. Aus den Schrecken des Gulag kann sich Widuch mit äußerster Härte befreien – und steht vor dem Nichts: in den Weiten der Taiga, einer atemberaubend schönen wie tödlichen Welt. Zusammen mit der Russin Ljubow und dem mitgeflohenen Gabaidze wird er von den Ljaudis gefunden. Bei dem archaischen Volk entdeckt Widuch ein fremdes Leben voll arktischer Exotik, ungeahnter Stille, eine Welt mit unbegreiflichen Göttern; der versehrte Gabaidze wird zum Schamanen. Als ein russisches Flugzeug landet, müssen Widuch und die schwangere Ljubow sich wehren und sind bald wieder auf der Flucht, allein im höchsten Norden.

Szczepan Twardoch schickt seinen Helden auf eine zum Zerreißen spannungsvolle Lebensreise, die Konrad Widuch immer wieder nur mit Gewalt bestehen kann. Russland, der hohe Norden, das 20. Jahrhundert in all seinen Abgründen prägen diesen Weg. Wie oft kann man sich selbst besiegen, ohne seine Menschlichkeit zu verlieren?

Das sagt Helene Paulig, Stammkundin der Guten Seite:
Der polnische Schriftsteller Szczepan Twardoch (Jahrgang 1979) ist seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die freie Ukraine an der Seite der Überfallenen aktiv. Er fährt direkt an die Front, um zu unterstützen. In seinem Roman greift er mit der Stalinschen Gewaltherrschaft ein dunkles Kapitel polnisch-russischer Geschichte auf. Sie ist ein Teil europäischer Geschichte, die vor allem in Russland nie kritisch aufgearbeitet wurde, ganz im Gegenteil. Putin schreibt die Geschichte um und baut darauf seine großrussische Invasionspolitik auf.

Immer ging es und geht es um das Thema Menschlichkeit. Konrad Widuch, in Deutschland geboren, lässt der Autor in seinem Roman an mehreren Stellen fragen: „Aber bin ich ein Mensch?“ Die Reise des jungen Widuch führt ihn über den Dienst in der deutschen kaiserlichen Marine zum Matrosenaufstand in Kiel, von der Volksmarinedivision zur Bekanntschaft mit dem Trotzkisten Radek, den begleitet er ins bolschewistische Russland, ins „Vaterland des Weltproletariats“, wie Widuch sagt. In Budjonnys Reiterarmee lernt er Sofie, seine große Liebe kennen, die auch eine Revolutionärin ist. Als Radek von den fürchterlichen Säuberungs- und Mordaktionen Stalins erfasst wird, flieht er mit Sofie nach Murmansk. Aber auch dort im hohen Norden werden Sofie und er von Stalins Schergen gefunden, sie trennen sich. Das Schicksal von Sofie und den beiden Töchtern bleibt ungewiss, Widuch muss die Folterungen in Haft und im Gulag ertragen. Er kann fliehen und kommt beim Volk der Ljaudis in der arktischen Welt zur Ruhe, das mit Stalins Russland bis dahin keine Beziehungen hatte und weit ab von den Entwicklungen des Weltkrieges lebte. Aber auch dort kann er nicht bleiben.

Um überhaupt Mensch sein zu können, muss Widuch seine Mutter, die als Hure ihren kargen Lebensunterhalt verdient, für immer verlassen. Diese erste Entwurzelung will er überwinden, sein Leben lang. Er kann bei Sofie Wurzeln schlagen, seiner großen Liebe. Die treibt ihn immer wieder an, nicht aufzugeben, am Leben zu bleiben. Dafür wird er selbst zum Mörder.

In der Rahmenhandlung des Romans schreibt Konrad Widuch seine Erlebnisse auf. Sie lesen sich spannend, grausam, erstaunlich, abstoßend. Vor allem sind es seine Gedanken, Überlegungen, Reflexionen über sein Leben in dieser Gesellschaft in Europa und in Stalins Sowjetunion, die dieses Buch lesenswert machen:

„Aber war Russland anders unter dem Zaren? Nein. Russland ist immer gleich, und waren Sofie und ich im Bürgerkrieg nicht genau solche Opritschniks wie Maluta Skuratow zu Zeiten Iwans des Schrecklichen, jener Skuratow, der die Nowgoroder niedermetzelte, haben wir, als wir die Weißen jagten, Offiziere mordeten, Polen, jeden, der gegen die Sowjetmacht war, haben wir da nicht Ziegel für Ziegel dieses Gefängnis gebaut, bis es sich über uns schloss, als die NEP (Neue Ökonomische Politik, von Lenin 1921 durchgesetzt, Anm. von H.P.) vorbei war?“

Twardoch gab seinem Roman, der 2022 in Polen erschien, den Namen „Chołod“ – Kälte. Das Cover des Rowohlt Verlages zeigt ein Foto von idyllischer Eislandschaft. Durch die Aufnahme von Widuch in den Alltag des arktischen Urvolks erfahren die Lesenden viel über das Leben und Überleben in einer betörend schönen und gewaltig anstrengenden Welt. Die Ljaudis sehen in ihm einen Menschen und bieten ihm ihre unbegrenzte Gastfreundschaft an. Wie bleibt man Mensch in dieser Kälte? Das ist möglich. Aber auch in der Kälte einer Gesellschaft?

Szczepan Twardoch: Kälte
Übersetzt aus dem Polnischen von Olaf Kühl
Originaltitel: Chołod (2022).
Erschien im April 2024 im Rowohlt Verlag,
gebunden, 432 Seiten.
In unserem Webshop: €26,-/ ebook €19,99
>>Ebenfalls von Szczepan Twardoch: Der Boxer, u.a. Im August 2024 erscheint Die Nulllinie. Reisen in die Ukraine.