Das schreibt der Verlag:
Berlin, 2029. Amaru Federmann, Sohn eines deutschen Neokolonialisten und Erbe des größten Lithium-Imperiums der Welt, kommt in seiner Wohnung zu sich. Sein Gedächtnis ist verwüstet, sein Glaube an sich und an die Zukunft ist erschöpft. Aber ein wiederkehrender Traum ruft etwas in ihm wach: Tika. Diese längst vergessene Gefährtin seiner Kindheit und Jugend lockt ihn nach Bolivien und erinnert ihn daran, wozu ein Mensch fähig sein kann.
Während er nach Tika und seiner Vergangenheit sucht, begehrt sie gegen die Machenschaften der Federmänner auf und strebt mit ihrer in Europa wütenden Bewegung 3. Juli einen revolutionären Wandel an – »das gute Leben«. Dabei durchschreiten Amaru und Tika die letzten Möglichkeitsräume utopischen Denkens: Traum und Rausch. Wahn und Tod.
Poljak Wlassowetz erzählt von einer existenziellen und psychedelischen Reise durch das seit Jahrhunderten ausgebeutete Bolivien und dessen Mythen. Ein Roman über die Kraft des Einzelnen, das Verlangen nach einer lebenswerten Zukunft und die Abscheulichkeit der Welt.
Das sagt Die gute Seite:
Nix für schwache Nerven und Straight-edge-Nerds. Mich hat’s wirklich gepackt, obwohl mir im Klappentext eine “psychedelische Reise” angedroht wurde. Trotzdem gelesen habe ich es,
weil ich diesen neuen Neuköllner Verlag kennenlernen wollte,
weil sich die gebundene Ausgabe einfach supergut anfässt und ich das viele Male tun wollte,
weil ich einen akademischen Lateinamerika-Bezug habe,
weil ich lange keinen Roman über Bolivien gesehen habe,
weil ich im Mai 2011 auf dem attac-Kongress “Jenseits des Wachstums” in Berlin war und dort Alberto Acosta aus Ecuador gehört habe, der vom Buen Vivir, dem Konzept vom Guten Leben, sprach und LITIOTOPIA das offenbar aufgreift.
Das interessierte mich doch sehr vor dem Hintergrund aktueller politischer Fragestellungen, die auch zehn Jahre nach meinem Kongressbesuch nicht weniger drängend geworden sind.
Geraten bin ich dabei in einen sprachlich und konzeptionell fordernden Roman, der mich bei Kapitel 1 noch zögern ließ, mit Kapitel 2 und 3 jedoch mit sich riss, nachdem ich mich darauf eingelassen hatte, dass sich die Darstellung von Realität, Vision, Wahn und Wunsch in einen zeitraumfluide gesetzten Handlungsrahmen ergießt. Das entspricht sonst nicht unbedingt meinem Leseprofil. Und nach Ling Mas New York Ghost und Lay Lorigas Kapitulation wollte ich eher eine kleine Dystopie-Pause einlegen.
Aber Wlassowetz’ Litiotopia hat mich mit den Mythen der Anden bekommen, mit Geschichtlichem zur Inkaherrschaft, mit der teilweisen Nach- wie Neuerzählung der Conquista, mit einer Erzählung von indigenem Widerstand gegen die europäische Arroganz und Unmenschlichkeit. Literarisiertes Debattendropping wie de-las-Casas vs. Sepúlveda (darf und soll die indigene Bevölkerung versklavt werden?) stört nicht, sondern bereichert. Beeindruckend zudem die “Ansammlung von Gescheiterten” (S. 319) und ihre Einordnung in die politischen Geschicke von den Sapa Inka Atahualpa, Hatuey und Tupaq Amaru, Tupaq Katari, Condorcanqui mit seiner Frau Bartolina Sisa, Guerrero, Bolívar, Artigas, San Martín, Azurduy de Padilla, bis hin zu Guevara, Martí, Zapata, Pancho Villa, Chavez, Maduro und schließlich Hermano Evo (Morales).
Glossar und Erläuterungen zu historischen Personen sind wie ein eigenes profundes Kapitel als historischer Nachtisch rundeten die Sache für mich ab. Wie großartig, solch eine Entdeckung in Neukölln kredenzt bekommen zu haben!
Friederike Hartwig
Poljak Wlassowetz: Litiotopia (ab 16J)
Erschien im Dezember 2021 im Neuköllner Kopf & Kragen Verlag,
Gebunden, 412 Seiten €26/ Softcover €22 – direkt im Buchladen bestellen/ über unseren Webshop ausschließlich ebook für €18,99.
>>Gleichfalls vom Verlag: U8 Untergrund miniaturen. Im Buchladen einsacken!
>>MANIFEST FÜR EIN GUTES LEBEN – BEWEGUNG 3. JULI, der fiktiven Bewegung aus Litiotopia liegt ebenfalls im Buchladen aus und kostet €11.
>>Zum Weiterlesen u.a. Eduardo Gudynas’ Analyse: Buen Vivir (2012), übersetzt von Birte Pedersen & Miriam Lang, mit der Einstiegsüberlegung: Buen Vivir, ein Konzept «des guten Lebens» aus den Andenländern, ist die spanische Übersetzung für sumak kawsay, ein Begriff aus der ecuadorianischen Quichua-Sprache, oder suma qamaña aus dem bolivianischen Aymara. Aber wie schafft es ein indigen geprägtes Konzept in europäische, akademische und politische Diskussionen?”
>>weiterlesen rund um Bolivien mit
Karin Harrasser: Surazo. Monika und Hans Ertl: Eine deutsche Geschichte in Bolivien. (Matthes & Seitz, März 2022),
Jennifer McCann: Reisedepeschen aus Bolivien und Peru. Begegnungen zwischen Wüsten, Bergen und Regenwäldern, an Straßen und Seen, in Ruinen und Metropolen. (Reisedepeschen, Oktober 2019),
>>rund um Lithium mit
Javier Lewkowicz: Lateinamerika diskutiert regionale Strategie für die Lithiumproduktion (November 2022; amerika21.de)
Lukasz Bednarski: Lithium. The Global Race for Battery Dominance and the New Energy Revolution (Hurst & Co, November 2021). —Rezension s. RAV Infobrief #124 2022, S. 118f.
Juan Donoso/ fdcl/ Nachrichtenpool Lateinamerika e.V.: Traum geplatzt – Deutschlands direkter Zugriff auf Lithium in Bolivien vor dem Aus? (Juni 2021)
Wir wünschen gute wie interessante und erkenntnisreiche Lektüre!