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Helena Adler: Die Infantin trägt den Scheitel links

Das schreibt der Verlag:
Blasmusikpop? Stallstiefelpunk! Von einem kleinen Mädchen, das sich nicht kleinkriegen lässt. Nicht einmal von der eigenen Familie. Dieses Buch schäumt vor Wut und Witz!

Dass sie, die jüngste Tochter, das zarte Kind, den Bauernhof ihrer Eltern abfackelt, ist nicht nur ein Versehen, ist auch Notwehr. Ein Akt der Selbstbehauptung gegen die Zumutungen des Heranwachsens unter dem Regime der Eltern, einer frömmelnden, bigotten Mutter und eines Vaters
mit einem fatalen Hang zu Alkohol, Pyrotechnik und Esoterik. Von den älteren Zwillingsschwestern nicht zu reden, zwei Eisprinzessinnen, die einem bösen Märchen entsprungen sind und ihr, der Infantin in Stallstiefeln, übel mitspielen, wo sie nur können. Und natürlich fehlen auch Jäger, Pfarrer und Bürgermeister nicht in dieser Heuboden- und Heimatidylle, die in den schönsten Höllenfarben gemalt ist und in der es so handfest und herzhaft zugeht wie lange nicht.

Dieses Buch ist ein Fanal, ein Feuerwerk nach dem Jüngsten Gericht unter dem Watschenbaum. Es erzählt von Dingen, als gingen sie auf keine Kuhhaut. Schrill, derb, ungeschminkt, rotzfrech und hart wie das Landleben nach dem Zeltfest und vor der Morgenmesse. Eine sehr ernste Angelegenheit, ein sehr großer Spaß.

Das sagt Helene Paulig, Stammkundin der Guten Seite:
Oje, dachte ich mir, will ich ein solches Buch wirklich lesen? Die Stichworte schreckten mich zunächst alle ab: frömmelnde, bigotte Mutter, Esoterik, Heimatidylle, schönste Höllenfarben… und was ist denn ein Watschenbaum?

Ich habe die innere Barriere überwunden und das Buch gelesen; und bin froh darüber, um das gleich vorneweg zu sagen. Das Buch ist klein, handlich, hat nur 184 Seiten und strotzt vor lebendiger, eigenwilliger Sprache, die tatsächlich Freude beim Lesen aufsteigen lässt. Trotz der Zumutungen, ja, die gibt es in dem Erstlingswerk der Österreicherin Helena Adler tatsächlich zuhauf.

Lesefreude trotz Zumutungen zuhauf

Zum Beispiel körperliche Gewalt in der Familie der Ich-Erzählerin: „Die Mutter hat sich beklagt, während sie die Ärmel hochgekrempelt hat, ‚aber einer muss es ja machen, Himmel, Arsch und Zwirn!‘ Denn irgendwer muss auf einem Bauernhof immer verdroschen werden.“

Zum Beispiel psychische Gewalt, die die verhassten Zwillingsschwestern ausüben: „Am zweiten Tag wollen sie mich einkellern wie Kartoffeln. Sie schleppen mich in das finstere Verlies… Bei andauerndem Regenwetter reicht mir das Wasser dort bis zum Bauch…“

Hoffentlich, denke ich mir, gehören solche Zeiten der zermürbenden und zerstörenden Züchtigung der Vergangenheit an. Wahrscheinlich nicht, aber ich will es mir vorstellen. Denn auch Ton, Atmosphäre, und Raum, die Helena Adler in ihrem Roman mit ihrem aufregenden, ironischen, leichten Schreibstil erschafft, machen die verstörenden Gewaltszenen nur bedingt erträglich.

Den Namen auf Infantin ändern

Helena Adler lässt uns in die Gedankenwelt des Mädchens schauen, um zu verstehen, wie sie mit Anfeindungen klarkommt und Schläge verkraftet oder ihnen ausweicht. Sie wehrt sich, zündet die Scheune an, beißt um sich: „Ich will meinen Schwestern einen Testflug ins Weltall spendieren. Ohne Rückfahrticket. Ich will die Schwestern zur Ernte am Watschenbaum zwingen. Ich möchte meinen Namen auf Infantin ändern. Und den der Schwestern auf Wolpertinger. Ich möchte unseren Stammbaum fällen, die einzelnen Äste mit der Axt zerteilen und mit fremden Ästen veredeln.“

Aber da sind auch die liebevollen, berührenden Szenen mit dem Urgroßvater, die dem kleinen Mädchen Boden unter den Füßen, Sonne ins Herz und Ruhe ins Hirn geben; die Grundlage für eine Heranwachsende, um sich in einer höllischen Umgebung entwickeln zu können: „Du hast meine Allüren gehegt wie kostbare Perlen. Vielleicht war ich dir sogar als der Hof, wie du mir wichtiger warst als mein Heim.“

Ein vergiftetes Paradies, aber ein Paradies

Die Autorin verlegt die Handlung in ein Gemälde von Pieter Bruegel. Zusätzlich sind die Überschriften der Kapitel Titel von berühmten Gemälden von Bruegel bis Richter. Dem Roman gibt diese Idee eine
allgemeingültige Dimension. Die kleine Infantin aus dem Bild „Las Meninas“ von Diego Velázquez taucht ausschließlich im Titel des Romans auf; ich tippe einfach mal, dass sie als Vorbild dient; wenn
nicht, ist es auch nicht schlimm. Die kleine spanische Infantin trägt den Scheitel tatsächlich links.

Die Suche nach „Scheitel links“ ergibt erstaunliche Ergebnisse im Netz, viel dummes Zeug ist dabei. Denn sollte ein Scheitel links tatsächlich bedeuten, dass die Frau alles auf eine Karte setzt und auch mal gerne ein Risiko eingeht (Elle, 20.12.2016)? In Helena Adlers Roman hatte es der Vater mit der Esoterik.

Was für eine Frau wird aus dem Mädchen, das – wie zu lesen ist – in einem „vergifteten Paradies“ aufgewachsen ist, „aber immerhin ein Paradies. Ein Sehnsuchtsort, an dem Huld blüht und Gnade wächst“. Ist sie seelisch und körperlich gesund? Findet sie ihre Mitte? Mag sie eine eigene Familie?
Hilft ihr das Bruegel-Panorama? Ich verrate es hier nicht.

 Helene Paulig

>>Zu allen Ausgaben (gebunden & ebook) im Webshop hier entlang. Eine Leseprobe findet sich auf der Verlagsseite von jung&jung, wo der Titel im Februar 2020 erschien.