Das schreibt der Verlag:
Svenja Leiber erzählt vom größten Bernsteinabbau der Geschichte und von Frauen, die sich gegen Hass und Gewalt stellen – im Mittelpunkt: Kazimira und ihr Ringen um Selbstbestimmung.
Ein abgelegener Ort am Baltischen Meer, Ende des 19. Jahrhunderts. Kazimira muss sich um Haus und Kind kümmern, obwohl sie lieber arbeiten will wie ihr Mann. Der ist Vorarbeiter in der »Annagrube«, dem gewaltigen Bernsteinwerk von Moritz Hirschberg. Doch als sich das Wagnis des Untertagebaus endlich auszahlt und die Grube zum Erfolg wird, werden auch Neid und Missgunst laut. Antisemitismus und Nationalismus greifen um sich, die Hirschbergs werden vertrieben. Kazimiras Sohn zerbricht am Ersten Weltkrieg. Und Kazimira erfährt, dass sie ihren langen Weg, der erst drei Jahrzehnte später, am Ende des Zweiten Weltkriegs enden wird, allein zu gehen hat …
Das sagt Die gute Seite:
Svenja Leiber landet natürlich einen Volltreffer bei mir mit diesem genealogischen Roman mit einer Erzählzeit von fast 150 Jahren, in dem sie einen beeindruckenden Bogen von 1870 bis 2012 schlägt.
Mit der titelgebenden Kazimira beginnt die Romanerzählung gleich nach der Entdeckung des Inlandsbernsteins am Weststrand im Gebiet zwischen Danzig und Kurischer Nehrung. “Die Kaz” ist eine arme Schluckerin und sehr beeindruckende Person. Mit ihrem Mann Antas lebt sie allein in einer verrußten Hütte ohne Schornstein von Strandgut, Meer und Hilfsarbeiter*jobs, möchte keine Familie und geht im Laufe ihres Lebens immer wieder entsprechend ihrer sozialen Stellung sehr angepasst durch die sich gesellschaftlich ändernden Zeiten.
Und doch hat sie durch ihr Sein verändert. Kaz ist nicht in soziale Kämpfe eingebunden, geschweige denn würde sie menschenscheue Person sich aktiv verbünden – auch weil die Gegenheiten das nicht hergeben und weil sie keine sozialen Anker hat. Und doch ist sie eine kraftvolle Person aus sich heraus, taugt für ihr weibliches Umfeld eher zum Negativbild in ihren Rollen als Verwandte, Waise, Partnerin, Frau, Angestellte, Mutter, Geliebte, Nachbarin, Arbeiterin, Großmutter, bis Kaz zum Ende als quasi mysthische Naturgewalt aus dem Roman entlassen wird, was jedoch dankenswerterweise nicht das Ende der Erzählung bedeutet.
So fluide wie die Nationalstaatsgrenzen des Gebiets sind auch die Familienbande. Die Menschen sprechen nehrungskurisch, russisch, polnisch, deutsch, baltisch. Die letzte Kazimira-Nachfahrin verkauft schließlich Bernstein auf ukrainischem Staatsgebiet. Kazimira ist nicht eindeutiger Herkunft, Nachkommin der vielzitierten “Ahne”, was nie spezifiziert wird. Mit Fortschreiten des Romans zeigt sich zunehmend deutlicher die mangelnde Bedeutung von biologischer Verwandtschaft für emotionale Bande und dass es immer die Umstände und das Wollen sind, die Menschen gut zueinander bringen.
Oder auch auseinander bringen. Denn durch die Figur des Unternehmers Moritz Hirschberg mit der klugen Ehefrau Henriette wird auch die Aufstiegs- und Vertreibungsgeschichte von jüdischen Gemeinschaften erzählt. Hirschberg ist als junger Mann Bauchladenkrämer und mausert sich zum Großunternehmer, der schließlich gerade noch rechtzeitig verkauft und mit seiner Familie auswandert. Faszinierend nebensächlich flicht die Autorin hier auch den sich wandelnden Bezug der Familie zur jüdischen Religion ein, was die Willkür und Absurdität von Antisemitimus verdeutlicht. Svenja Leiber fügt dem Roman im Anhang mithin eine Karte mit den zahlreichen Synagogengemeinden der Zeit bei.
Rezensentin Birgit Böhnke bezeichnet “Kazimira” überzeugend auch als “psycheografisches Porträt” der Landschaft um Jantarnyi nordwestlich von Kaliningrad. Entlang der Geschichte dess Bernsteinabbaus dort verknüpft der Roman somit gekonnt Landschaft & die sie besiedelnden Menschen. Leiber erzählt wie nebenbei von Physik und Extraktivismus à la 19. Jahrhundert “unter Treibsand” mit Loren, Grubentieren, Arbeiten im Wasser und in Dunkelheit, von Handwerk, Handel, Konkurrenz, Politik und Moden.
Während die Geschichte mit Kazimira beginnt, ist Nadja Semjonowa die Figur der erzählten Gegenwart, auf die das Erzählte zeitlich zuläuft. Die alleinstehende junge Frau hat eine kleine Tochter, was zwar eine genealogische Fortschreibung andeutet; aber schließlich verlassen die Beiden die Grube, den Bernstein und damit die ökonomische Perspektivlosigkeit atmende Region und werden woanders mit nicht besonders guten Ausgangsbedingungen neu beginnen – wie über ein Jahrhundert zuvor auch Kazimira.
Friederike Hartwig
Svenja Leiber: Kazimira.
Erschien im August 2021 gebunden im Suhrkamp Verlag,
im Januar 2023 als Taschenbuch, 331 Seiten.
In unserem Webshop: €12, epub €11,99.